Elena Seifert, Russland, Moskau

Anker-Vogel

© Aus Russischen VON JURI BENDER

© Illustration von Daniel Breininger, Aachen 

von Juri Bender

Es war einst einmal ein Anker. Zusammen mit seinem Anker-Bruder hing er am Bug eines Schiffes mit dem Namen „Schönling“ und erblickte auf seinen Reisen zahlreiche ungewöhnliche Orte. Seine Seele war von der Schönheit der Welt gefangen genommen. Der Sonnenkünstler bemalte die Wasseroberfläche mit phantastischen Farben und gab abends Pinsel und Farbpalette an einen anderen Künstler weiter – den Mond. Geschickt sprangen fliegende Fische aus dem Wasser, und wurden von zauberhaften Quallen unter ihren durchsichtigen Schirmen beobachtet. Der Anker jedoch hing an Bord und träumte, träumte, träumte! „He, Brüderchen!“, rief er dem zweiten Anker zu, der sich auf der anderen Seite des Schiffes ausruhte. „Ist die Welt nicht eine magische Sache?“ „Kann schon sein“, erwiderte sein Bruder gelangweilt. „Mir ist es einerlei.“ Der Anker, der Romantiker, verstummte und senkte seinen Kopf voller Genuss in das maritime Gemälde.

Wenn „Schönling“ in einen Hafen einlief, wurden die Anker, wie es sich gehört, ausgeworfen, um das Schiff im Hafen festzuhalten. Unser Träumer sollte sich mit dem Anstarren des zähflüssigen Meeresgrundes zufrieden geben. Er aber, der Arme, hatte schreckliche Angst vor der Tiefe! Als er den laut gebrüllten Befehl des Kapitäns hörte: „Anker werfen!“, erkaltete sein Herz. Sein Bruder, der sowohl der Schönheit des Meeres als auch den Gefahren der Tiefe gleichgültig gegenüberstand (und von welcher Tiefe kann im Flachwasser überhaupt die Rede sein?), tauchte sofort ins Wasser ein, während unser Freund auf dem Weg nach unten beinahe von einer Ohnmacht überfallen wurde.

Nur Felix, ein blonder, schön gebräunter Schiffsjunge, verabschiedete sich von den Ankern mit Mitleid in seinen zärtlichen blauen Augen. Ach, wie geht es den Armen da unten ohne das helle Tageslicht, unter den Raubtieren des Meeres und ohne wahre Freunde?
Der Anker konnte wahrlich nicht behaupten, dass die Unterwasserwelt etwa nicht von faszinierender Schönheit sei. Die unterschiedlichsten Algen, Fische und sonstigen Lebewesen tummelten sich vor seinen Augen. Einmal konnte der Anker während seines traurigen Sturzes in die Tiefe aus dem Augenwinkel sogar eine Meerjungfrau erblicken. Die elegante Meeresdiva kämmte ihre langen Locken mit bizarrem Kamm aus einem Fischskelett. „Ai-ai-ai! Vorsicht! Ein Anker!“ Und ihr erschrockenes Gesicht und ihre zarten Händchen blitzten kurz vor ihm auf und verschwanden im trüben Nebel des Meeres. Wie sehr der Anker auch seine Augen aufrichtete, wie sehr er auch versuchte seinen Fall anzuhalten: Der Meeresgrund zog ihn unbarmherzig zu sich hinunter, fletschte seine Kurven und Abgründe, streckte dem Unglückseligen seine gierigen Tentakel entgegen. Sein Staunen über diese Erlebnisse verwandelte sich schnell in Angst. Dem Anker war nach Weinen, vielleicht weinte er sogar? Aber konnte man es im Wasser, zumal in diesem salzigen, wirklich merken?

Nein, nein, er war kein armseliger Feigling. Er war ganz einfach nicht dazu berufen, ein Anker zu sein. Die Tiefen des Meeres und sogar die Sandbänke schienen dem Anker unfreundlich zu sein, ja sie weckten in ihm eine bedrückende Schwermut. Und dies nicht nur dann, wenn an seiner Ankerkette, an der er hang, ein Tigerhai mit grob gezackten scharfen Zähnen vorbei schwamm. Der Anker hatte keine Angst vor Haien, denn er war ja schließlich aus Metall. Er konnte sine Fesseln, die Dunkelheit und den Meeresgrund nicht leiden. Genauso unangenehm waren ihm Schlamm, Dreck und die gesamte Unterwasserwelt.
Eines Tages musste „Schönling“ nach einem heftigen Sturm eine unbewohnte tropische Insel anlaufen. Der Anker war noch nie an solchen Küsten gewesen. Lianen schlangen sich zärtlich um Bäume mit großen, in der Sonne glänzenden, Blättern. Saftige Gräser schmiegten sich an Boden und Bäume und nahmen die strahlende Sonne auf. Der Anker hatte noch nie zuvor solch seltsame Pflanzen und Früchte gesehen. „Ah!“ frohlockte die Seele des Ankers. Aber kaum hatte der leidenschaftliche Reisende die langen Blätter der Ananas und die weiteren Wunder der Natur bejubelt, vernahm er das schreckliche Kommando des Kapitäns: „Anker werfen!“ Der Schiffsjunge lief an die Reling, um seinen Freund zu verabschieden, aber der Anker schlug bereits mit zusammengekniffenen Augen und pochendem Herz ins Meereswasser hinein.

Erst auf dem Grund öffnete der Arme seine Augen – und japste. Wie es aussah, war er in ein zauberhaftes Unterwasserkönigreich geraten: Zwei seltsame Paläste – einer aus großen blauen Perlen, der andere aus durchbrochenen, rosafarbenen Korallen – lockten mit ihren wunderbaren Formen. Die Paläste waren von eleganten Gärten aus fremdartigen Algen umgeben, die Wege mit blauen und rosa Perlen gesäumt. Der Anker konnte vor lautem Erstaunen seinen Blick von diesem Königreich nicht abwenden.
„Sei Willkommen, mein Freund!“ – hörte der Anker eine weibliche Stimme. Sie klang zauberhaft singend hinter seinem Rücken. Da er aber bereits im Grund verankert war, konnte sich der Anker zu der Besitzerin der wunderbaren Stimme nicht wenden. Sie aber ließ sich selbst gleich vor dem Anker erblicken.
Sie war keine Meerjungfrau: unter ihrem engen schneeweißen Schuppenkleid, reichlich bestickt mit weißen Perlen, waren ihre langen Beine deutlich zu erkennen. Ihr glattes Haar floss in goldenen Strähnen mit einer leicht grünen Schattierung bis zu ihren Füßen hinab. Ihre mandelförmigen, seltsamvioletten Augen glänzten. Sie strahlten, trotz des kalten Farbtons, Wärme aus. Eine kleine elegante Krone verriet ihren Status als Königin oder Prinzessin.

 „Wer bist du, du, wunderbare junge Frau?“, flüsterte der Anker, und beim Anblick einer solch blendenden Schönheit drohte sein Verstand ihn zu verlassen.
„ Ich heiße Lia. Ich bin die Tochter von König Ozean. Dieser Palast, blau wie die Augen eines Neugeborenen, gehört meiner älteren Schwester Aquamarine. Der andere Palast, rosa wie die Haut eines Engels, gehört meiner jüngeren Schwester Margarita. Mein Palast befindet sich weit weg von hier, im Atlantischen Ozean. Und wer bist du?“
„Ich bin der Anker.“ Dann erinnerte er sich an den stolzen „Schönling“ und fügte hinzu: „Ich bin der Anker vom Schiff „Schönling“.
„Anker? Ich habe die Gabe, Seelen zu sehen und zu hören. Du hast eine feine Seele, zart wie der Klang von Maiglöckchen. Sie klingt hell, wie gespannte Sehne eines Bogens. Sie ist kühn, wie ein Flug zur Sonne. Du bist kein Anker. Du bist ein starker, kräftiger Vogel. Du siehst sogar aus wie ein Vogel, nur deine Flügel, die sinken gerade in den Meeresgrund.“
Das Herz des Ankers begann heftig zu pochen. Genau, er hatte schon immer ein Vogel sein wollen, ein starker, schwarzer Vogel, der den Himmel über der Erde und dem Meer durchstreifen könnte. Frei, schön und stolz, genauso wie „Schönling“. Der Anker seufzte und offenbarte der guten Lia seine verzweifelten Seelenschmerzen. Die Prinzessin hörte ihm mit solcher Anteilnahme zu, ihr rosa Antlitz zeigte solch einen Schmerz und ein so starkes Mitgefühl, dass es dem Anker sofort deutlich besser ging.
„Lieber Anker! Ich habe auch die Gabe, einen Wunsch zu erfüllen, jedoch nur einen. Dies ist die Bedingung: Wenn ich zwei Wünsche von ein und demselben Wesen erfülle, verliere ich nicht nur meine Zauberkraft, sondern auch meinen Palast und meinen Prinzessinnentitel. Die bösen Wellen werden mich dann an den Strand spülen. Aber du, mein Freund, hast glücklicherweise ja nur einen Wunsch. Du willst nie wieder auf den Grund des Meeres hinab gelassen werden. Ich kann dir dabei helfen. Wenn du kein Vogel sein willst, kann ich dich auch in das verwandeln, was du möchtest: In eine elegante Yacht, in einen blühenden Baum, in den Kapitän von „Schönling“…“
„Nein, nein, bloß das nicht, Lia! Ich will unbedingt ein Vogel werden!!!“
„Dann sei einer! Wenn du an die Oberfläche gehoben wirst, verwandelst du dich im Nu in einen kräftigen Vogel. Deine Kette wird sich in tausend Meerestropfen auflösen! Dann flieg, mein Freund, in den blauen Himmel!“ Lia berührte mit ihren zarten Fingern sanft den Anker.
„Oh, ich danke dir! Das ist ein großzügiges Geschenk, Prinzessin! Vielen, vielen Dank!“, der Anker war verwirrt, denn er wusste nicht, wie man sich für solch ein Geschenk angemessen bedankte.
„Leider muss ich dich nun verlassen. Denn mein Vater lädt all seine Kinder, zwölf Söhne und zwölf Töchter, zu sich ein, und ich habe meinen Schwestern die Botschaft überbringen sollen. Nun schwimmen wir fort. Viel Glück!“ So verabschiedete sich Lia mit ihrer singenden Stimme vom Anker, und ihre zarte Gestallt verschwand schnell aus seinem Blickfeld.
Der Anker, jetzt ganz frohen Herzens, wartete darauf, dass man ihn an die Wasseroberfläche zieht, und er sich dann in einen Vogel verwandelt.
So vergingen zwei Tage. Und danach noch einmal eine Woche. Schließlich noch ein ganzer  Monat. Der Anker hatte aber einen Traum, mit dem es sich viel leichter leben ließ. Lange Tage hindurch bewunderte der Anker die Paläste und Gärten von Aquamarine und Margarita und wartete, und wartete.
Er konnte nicht wissen, dass an Bord von „Schönling“ ein ernsthafter Schaden aufgetreten war, den die Besatzung mit eigenen Mitteln zu reparieren versuchte. Der Anker wartete und wartete. Unten, im Unterwasserkönigreich, war es ruhig und schön, aber über ihm, auf dem Meer, wütete wieder einmal ein heftiger Sturm…
Auf einmal spürte der Anker einen ungewöhnlich starken Druck von oben. Er hob die Augen und erschrak: Der „Schönling“ sank. Der Anker machte sich natürlich größte Sorgen. Er war ja mit „Schönling“ durch seine Ankerkette wie mit einer Nabelschnur fest verbunden, und er liebte sein Schiff sehr.
Der Rumpf des Schiffes schlug hart auf dem Grund auf und zerstörte dabei die Paläste und Gärten des Meereskönigreiches. Keiner konnte dem Anker erzählen, was passiert war, nicht einmal der gesprächige Schiffsjunge, denn die gesamte Besatzung war auf der Insel zurückgeblieben. Das Unglück von „Schönling“ erschütterte den Anker so sehr, dass er seinen Traum, ein Vogel zu werden, beinah vergessen hatte. Am Boden des gesunkenen Schiffes klebten Muscheln, Schalentiere, Wasserpflanzen fest, aber der Anker hatte keine Angst mehr vor diesen seltsamen Bewohner des Meeres. Er trauerte um sein Schiff und betrachtete voller Mitleid dessen Überreste. Doch noch viel mehr bemitleidete er die Besatzung, die ihr Schiff verloren hatte und wahrscheinlich nie wieder die Küsten ihrer Heimat in Europa erreichen wird.

Da erklang über dem Kopf des Ankers, der unter den Überresten des Schiffes lag, wieder mal Lias zauberhafte Stimme:
„Lieber Anker! Vöglein, wo bist du?! Ich bin mit meinen Schwestern zurückgekehrt. Wie traurig, dass dein  Schiff gesunken ist. Aber ich werde dir helfen, nach oben zu gelangen. Endlich kannst du ein Vogel werden!“
„Ich bin hier, meine Retterin!“ Die Stimme des Ankers klang aus den Überresten von „Schönling“ traurig und dumpf. „Aber ich bitte dich, liebe Prinzessin, erfülle mir einen anderen Wunsch. Bitte gib dem Schiff sein Leben zurück! Du verstehst doch, wie ungerecht „Schönlings“ Tod ist. Es war ein riesiger und schneller Meeresvogel und es gab auf dem weiten Meer keinen seines Gleichen.“
„Ich kann das Schiff wieder ins Leben zurückholen. Aber was ist dann mit dir? Du wirst für immer Anker bleiben.“   
Bei diesem Gedanke zuckte der Anker, doch er antwortete entschlossen:
„Ich füge mich meinem Schicksal. Ich bin ein Teil von „Schönling“ und ich will, dass er lebt. Ich will, dass die gesamte Besatzung des Schiffes, geführt vom strengen Kapitän, auf dem „Schönling“ nach Hause zurückkehrt. Wie froh wird der liebe Schiffsjunge, unser Felix, sein, wenn er seine Heimat endlich wieder betreten kann!“ Der Anker lebte auf, als er sich das vorstellte.
„Also gut, so soll es sein, kühner Anker-Vogel“, sagte Lia nachdenklich und berührte mit ihren zarten Fingern die kalte Haut des Schiffes. „Schönling“ stieg langsam zur   Wasseroberfläche hinauf. Vor den Augen Lias, ihrer Schwestern und des Ankers richteten sich die Paläste und Gärten in alter Pracht wieder auf: verzauberte Perlen und Muscheln schwebten umher und kehrten schließlich an ihre früheren Plätze zurück. Die abgestorbenen Algen wurden wieder lebendig und schwankten im tiefen Wasser. Aquamarine und Margarita klatschten in die Hände und bedankten sich herzlich bei ihrer Schwester, der Zauberin. Innerlich hatten sie von ihren Palästen und Gärten schon Abschied genommen, da sie selbst über keinerlei Zauberkräfte verfügten. Sie kehrten in ihre Gemächer zurück, während Lia beim Anker blieb.
„Schönling“ war wieder da, und die Besatzung ging zuerst verwirrt, dann aber frohlockend an Bord. Das Schiff befand sich erstaunlicherweise in gutem Zustand. „Anker lichten!“ rief der Kapitän fröhlich. „Leb wohl, liebe Lia!“ Der Anker blickte voller Dankbarkeit auf die Prinzessin, aber die kräftigen Arme der Matrosen zogen ihn so schnell aus den Tiefen des Meeres, dass Lia sich nicht einmal von ihrem Freund verabschieden konnte.

Das Herz des Ankers sang vor Freude, weil er den „Schönling“ heil und unbeschadet sehen können wird. Kurz vor der Wasseroberfläche merkte der Anker, wie die Sonnenstrahlen versuchten in das Meeresreich einzudringen, und freute sich noch mehr. „Sei gegrüßt, liebe Sonne! Von nun werde ich deine Wärme und deine heißen Farben wieder genießen können“, flüsterte der aufgeregte Anker.
Auf dem Weg nach oben, spürte er, dass mit ihm etwas Merkwürdiges geschieht. Sein Metallkörper änderte seine Struktur, er wurde elastisch und warm. Seine beiden Hörnchen breiteten sich zu Flügeln aus, und der Anker erhob sich über dem Wasser und stieg hoch in die Luft. Die Kette, mit der er vor vielen Jahren vom Ankermeister an das Schiff gefesselt wurde, zerstob zu hellen Wasserspritzern. Die Matrosen, die eine Sekunde zuvor noch den Anker gelichtet hatten, schauten nun verwundert einem großen, schwarzen Vogel nach: Der Anker war zu einem Vogel geworden, dessen nassen Federn wie edle Schwarzperlen in der Sonne glänzten. Seine Augen bewunderten den „Schönling“ aus ungewohnter Perspektive: von oben! Er war überwältigt von seinem Glück! „Welch ein Wunder! Ich bin ein Vogel!“
Er beobachtete sein wunderschönes Schiff, das langsam Fahrt aufnahm, seine treue, jubelnde Besatzung. Er sah Felix, der mit seinem vom Leib gerissenen Matrosenhemd, wie mit einer Fahne schwang, und in dem Moment einem schönen Meeresprinzen ähnelte. Wie dankbar war der Vogel der Prinzessin, die mit außergewöhnlicher Barmherzigkeit beide Wünsche eines unglücklichen Wesens erfüllt hatte. „Ach! Was passiert aber jetzt mit der Prinzessin?“ Dieser Gedanke ängstigte den Vogel so sehr, dass er selbst beinahe ins Meer stürzte.
In dem Moment wandte Felix seinen Blick zum Ufer und rief aufgeregt: „Schaut mal!“ Er sprang über Bord und schwamm zur Insel zurück. „Volle Kraft zurück! Mann über Bord!“ befahl der Kapitän. Kurz darauf sauste der andere Anker, der Bruder des Vogels, wieder dem Meeresgrund entgegen und hielt den „Schönling“ fest. Alle richteten ihre Blicke auf die Insel.

Auf weißem Sand lag eine wunderschöne junge Frau mit langen goldenen Haaren. Sie schien ohnmächtig zu sein, und der aufgeregte Felix bemühte sich ihr zu helfen.
Der Vogel flog zu ihnen. Lias Wimpern zuckten leicht, und sie öffnete schließlich ihre violetten Augen. Der Junge lächelte das Mädchen an und ihre Blicke trafen sich. In den jungen Herzen flammte eine zärtliche Liebe auf. Keine Reichtümer der Erde noch die des Meeres könnten den Wert dieser süßen Gefühle aufwiegen. Die Liebe des Ankers zu seinem Schiff hat ein Fünkchen Liebe an zwei Menschen weiter gegeben.

Auf einmal teilte sich das Meer und auf einer riesigen rosa Muschel entstieg der weißhaarige König Ozean dem Meer. Als die Männer der Besatzung dieses Wunder erblickten, riefen sie: „Felix, schwimm zu uns!“ Der Kapitän gab weitere Befehle: „Rettungsboote zu Wasser!“ Doch König Ozean schüttelte nur den Kopf und zeigte durch eine majestätische Handbewegung, dass er dem Jungen nichts Böses antun wird. Er stieg an Land und reichte seiner Tochter die Hand, um ihr aufzuhelfen.
„Liebstes Töchterchen, du hattest dich entschieden, zwei Wunder für ein Wesen zu vollbringen.“ Die Stimme des Königs klang traurig. „Viele unserer Gesetze sind vage. Du weißt aber, mein Kind, dass dein Verstoß gegen diese Regel für dich das Exil zur Folge hat.“
Felix stützte das Mädchen am Ellbogen und verfolgte besorgt das Gespräch. Der Vogel saß daneben. Salzige Tränen flossen schuldbewusst aus seinen zu Bode gesengten Augen. 
Er wünschte sich, lieber wieder Anker zu sein, nur Lia sollte nicht noch weiter leiden müssen, und wollte gerade das Wort ergreifen…
Die ehemalige Prinzessin weinte, aber der Funke der neuen Liebe, welcher in ihren violetten Augen glänzte, konnte die salzigen Tränen einigermaßen hemmen. Anderseits war noch die innige Liebe zu ihrem Vater, ihren Schwestern und Brüdern. Lia küsste die Hand ihres Vaters und sank vor ihm auf die Knie, an seinem mit Kostbarkeiten des Meeres besticktem Gewand, festhaltend. Felix trat zur Seite. Und wieder half Ozean seiner Tochter auf. 
„Ich weiß, dass du ein gutes Herz hast, Töchterchen!“, sagte der König, seine Stimme klang nun väterlichgütig. „Auch ich habe ein Herz, das lieben kann. Obwohl du keine Meeresprinzessin mehr bist, darfst du uns besuchen, wann immer du willst. Als Mitgift sollst du deinen Palast bekommen.“ Und zu Felix sagte er: „Mein lieber Junge, ich denke, dass meine Tochter mit dir an ihrer Seite auch auf der Erde als Prinzessin sich fühlen wird.“
Die Wellen teilten sich abermals, und aus den Tiefen des Meeres stieg ein wunderschöner Palast, gebaut aus riesigen weißen Perlen, empor. Kein Mensch auf der Erde besaß auch nur einen tausendsten Teil eines solchen Reichtums.

Nach der fröhlichsten Hochzeit aller Zeiten, die sowohl die Bewohner des Meeres als auch des Landes mitfeierten, stach „Schönling“ endlich Richtung Europa in See. An Bord befanden sich das schönste Mädchen und der glücklichste junge Mann der Welt. Von dem Schatz des Palastes schenkten sie jedem Mitglied der Besatzung je eine Truhe voller Perlen. Den Palast selber hatte „Schönling“ in sein Schlepptau genommen. Das Unterwasserheer Millesas, des älteren Bruders von Lia, schützte den Palast und den „Schönling“ vor Piraten.
Vor dem Auslaufen des Schiffes rief beim Einholen des Ankers einer der Matrosen: „Wir haben den rechten Anker verloren!“ Nur Lia und Felix wussten, dass der Anker keineswegs verloren, sondern in Gestalt des Vogels ihr treuester Freund geworden war.
Der Vogel schwebte frei in der Luft – sein Schatten auf dem Deck des stolzen Schiffes glich dem Abbild eines Ankers.

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